BIO: Artikel 2/2004

Die Irrenmedizin hat ausgedient

Von Dr. Günter Baumgart

Gehört zum Preis moderner Zivilisation nach der Medikalisierung des Körpers nun auch die von Geist und Seele? Haben wir alle das Zeug dazu, in irgendeinem Grade psychisch gestört und dann psychiatrisiert zu werden? 

BIO sprach über dieses Problem mit dem schweizerischen Psychiatriekritiker und Buchautor Dr. med. Marc Rufer aus Zürich

Biographisches: Dr. med. Marc Rufer

Dr. med. Marc Rufer wurde 1942 in Bern geboren. Nach Abschluss eines Medizinstudiums in seiner Heimatstadt arbeitete er zunächst als Assistenzarzt in einer psychiatrischen Klinik. Die Erfahrungen, die er dabei mit der Praxis der etablierten Psychiatrie machte, brachten ihn dazu, sich nicht nur von diesem menschenverachtenden medizinischen Konzept zu lösen, sondern aktiv dagegen aufzutreten. Sowohl durch die Veröffentlichung psychiatriekritischer Bücher, z.B. „Irrsinn Psychiatrie„ (1988), „Wer ist irr““ (1991) und „Glückspillen“ (1995), als auch durch die Unterstützung der weltweit verbundenen Bewegung Psychiatrie-Betroffener. Ferner ist er Vorstandsmitglied von PSYCHEX, eines vor allem in der Schweiz aktiven Vereins, der sich für Menschen einsetzt, die gegen ihren Willen in einer psychiatrischen Anstalt eingeschlossen und zwangsbehandelt werden. Dr. Rufer lebt seit 1975 in Zürich und arbeitet dort in eigener Praxis als Psychotherapeut.

Ein Plädoyer für Psychotherapie statt Psychiatrie.

Die Landeskliniken, jene verharmlost etikettierten einstigen Irrenanstalten, haben Zulauf. Der wirtschaftliche Niedergang tut ihnen keinen Abbruch. Im Gegenteil: Was die Zahl der Insassen anbelangt, beschert er ihnen Belebung. Süchte, Ängste und Depressionen mehren unablässig die Klientel der psychiatrischen Ärzteschaft und der Medikamentenbranche. Die zuweilen fantasievollen Namen von Beruhigungsmitteln und Stimmungsaufhellern füllen die Rezeptblocks, Der Siegeszug der Psychopharmaka ist offenbar nicht aufzuhalten. Und wo sie nicht mehr wirken wollen, wartet der wieder salonfähig gemachte Elektroschock. „Gebessert“ werden kann heutzutage jeder psychisch Auffällige, zur Not wird er leichter verwahrbar gemacht.

 

BIO: Herr Dr. Rufer, wer von uns ist eigentlich nicht mehr normal, wer psychisch auffällig oder gar krank?

Marc Rufer: Wer sich über Normen hinwegsetzt! Der stört die „Normalen“, die „Gesunden“. Und die fühlen sich dann bedrängt und bedroht. Als besonders störend gelten ganz offensichtlich diejenigen, die sich der Arbeitswelt verweigern. Nur wer die heute oft unerfreuliche Arbeitswelt klaglos ertragen kann, darf sich für psychisch gesund halten.

Auffällig aber ist, wer von weiteren Verhaltensregeln des Alltags abweicht, zum Beispiel wie man sich begrüßt, ob, wann und wie man einen Fremden anspricht. Auch das Maß, in dem man öffentlich seine Freude oder Trauer bekunden, seinem Bewegungsdrang folgen oder etwa sein Geld ausgeben darf. Obwohl diese ungeschriebenen Normen kaum je bewusst reflektiert werden, erwartet die Gesellschaft, dass sie keiner verletzt. Und wer es dennoch tut, der wirkt, wie gesagt, störend oder gar gefährlich. Seine Psychiatrisierung bedeutet deshalb für viele Menschen eine Beruhigung.

 

BIO: Genügte da nicht meist eine Portion Toleranz? Ein komischer Kauz muss doch nicht in die Klinik.

Marc Rufer: In unseren psychiatrischen Kliniken wird behandelt, wer eingewiesen wird oder sich freiwillig meldet. So einfach ist das. Die Psychiatrie behandelt, was die Gesellschaft als „krank“ empfindet. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht ein Experiment des amerikanischen Psychologieprofessors David Rosenhan. In einem Dutzend Nervenkliniken wurden hierbei völlig unauffällige Scheinpatienten als schizophren eingestuft und therapiert. Ein Beispiel für die offensichtliche Haltlosigkeit psychiatrischer Diagnostik.

BIO: In den medizinischen Wörterbüchern lesen sich psychiatrische Krankheitsbilder jedoch wissenschaftlich fundiert.

Marc Rufer: In der anerkannten Fachliteratur sieht das anders aus. Da besteht Einigkeit darüber, dass psychiatrische Diagnosen Konstrukte sind. Sie werden auch als Vorstellungen, Konzepte, Sehmuster und Konventionen bezeichnet. Die psychiatrischen Diagnosen sind ständig im Wandel begriffen und können sich von Land zu Land unterscheiden. Zudem zeigt es sich immer wieder, dass die Diagnosestellung ein subjektiver, nicht wiederholbarer Prozess ist. Abhängig von der psychischen Befindlichkeit des Untersuchenden wird dessen Urteil mal so oder mal so ausfallen.

 

BIO: Vielleicht ist es ja ein Indiz dafür, dass die Volksmeinung nicht ganz daneben liegt. Sie nimmt nämlich an, dass die Berufswahl vieler Psychiater und Psychotherapeuten, gelinde gesagt, auf eigene psychische Probleme zurückzuführen sei.

Marc Rufer: Diese Meinung kann ich nur bestätigen, Psychiater bringen sich öfter um, sind häufiger abhängig von Tranquilizern und Schlafmitteln, als dies dem Durchschnitt der Bevölkerung entsprechen würde. Sie berichten auch wesentlich öfter als andere Leute von psychischen Störungen in ihrer Jugend.

Die psychiatrischen Diagnosen sind ständig im Wand begriffen und können sich auch von Land zu Land unterscheiden

BIO: Gibt es denn überhaupt eine klare Grenze zwischen dem, was „normal“ und „verrückt“ ist?

Marc Rufer: Die Antwort ist eindeutig: Nein! Wobei meiner Meinung nach im Bereich der Psyche der Begriff der Krankheit überhaupt nicht verwendet werden sollte. Die Schubf˛cher „normal“ und „verrückt“ sind kulturell, ja oft auch politisch „getischlert“ und meist unbewusster Bestandteil der jeweiligen Gesellschaft. Vor allem sind sie keine festen, wissenschaftlich definierbaren Größen. Dieser Ansicht war bereits Sigmund Freud.

Warum die psychiatrische Diagnose stigmatisiert

BIO: Um so mehr müssten sich Psychiater davor hüten, verhaltenauffälligen Menschen generell den Stempel einer psychiatrischen Diagnose aufzudrücken.

Marc Rufer: Ja. Psychiatrische Diagnosen wie zum Beispiel Schizophrenie oder Manie stigmatisieren. Sie bedeuten für die Betroffenen gleichsam das Ende ihrer Existenz als diejenigen, die sie zuvor waren, mit anderen Worten: ihren sozialen Tod. Sie, aber auch ihre Kontaktpersonen, werden diesen Einschnitt niemals vergessen. Sie haben gleichsam eine neue Identit˛t erhalten.

Als schizophren diagnostiziert zu sein bestimmt das soziale Leben eines Menschen mehr als die Tatsache, eine Familie gegründet oder eine Ausbildung als Architekt gemacht zu haben. Alles wird nie wieder so sein, wie es einmal war. Das ist aber nur die eine Seite des Problems. Die andere ist: Die Diagnose chronifiziert und verfestigt die Störung. Sie berechtigt die beteiligten Ärzte zu zeitlich unbegrenzter Behandlung und Kontrolle. Auch wenn sich keinerlei Symptome mehr zeigen sollten.

BIO: Im Berliner Weglaufhaus, in dem versucht wird, Psychiatrie-Betroffenen eine Brücke zurück ins normale Leben zu bauen, gilt offensichtlich die gegenteilige Position. Man scheint hier einfach zu ignorieren, dass diese Menschen krank sind oder waren. Wird damit nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet?

Marc Rufer: Wie gesagt, der Begriff Krankheit sollte im psychischen Bereich überhaupt nicht verwendet werden. Die Betroffenen leiden, sie fallen auf, sie ecken an, sie stören, sie brechen Normen. Möglichcherweise schaden sie mit ihrem Verhalten sich selbst, selten auch anderen Menschen. Doch wenn ich sie zu Kranken stemple, dann schaffe ich neue Probleme. So unter anderem eine lebenslange Abhängigkeit von der Psychiatrie. (Siehe dazu den Leserbrief auf S. 125, Anmerkung der Redaktion). Die Chance, dass die Betroffenen je wieder fähig werden, ihre Schwierigkeiten und damit ihr Leben selbst zu meistern, ist damit vertan.

BIO: Wann sprechen auch Sie von einer psychischen Krankheit?

Marc Rufer: Nie. Bei einer kleinen Minderheit psychisch auffälliger Menschen ist die Störung durch klar feststellbare organische Veränderungen im Gehirn ausgelöst. So beispielsweise durch Infarkte, Infektionen, Tumore, Schädel-Hirn- und Geburtstraumata, aber auch durch degenerative Prozesse wie Alzheimer. Diese organisch bedingten Störungen werden auch von der Schulpsychiatrie nicht als psychische Krankheiten bezeichnet.

Umso weniger ist der Begriff der Krankheit bei den übrigen psychischen Störungen oder Auffälligkeiten gerechtfertigt. Sogar bei den als besonders schwerwiegend betrachteten Schizophrenien und Manien sind nämlich bis heute keine biologischen Ursachen wissenschaftlich nachgewiesen. Dabei suchen hochkarätige Forscher seit mehr als hundert Jahren unermüdlich danach.

BIO: Gilt es nicht als ausgemacht, dass beispielsweise bei Depressionen der Serotoninspiegel zu niedrig ist und ein Zuviel an Dopamin uns möglicherweise in den Wahnsinn führen kann?

Marc Rufer: Nein. Es handelt sich her um unbewiesene Hypothesen, die zudem ausschließlich vom Wirkungsmechanismus der Antidepressiva beziehungsweise von dem der Neuroleptika abgeleitet sind. Doch diese Ableitung wäre nur dann zulässig, wenn die Medikamente die in Rede stehenden Symptome spezifisch, das heißt gezielt zum Verschwinden bringen würden. Das ist jedoch nicht der Fall. Sämtliche Psychopharmaka wirken unspezifisch. Sie lösen bei Gesunden wie bei „Kranken“ dieselben Wirkungen aus.

Das Konzept, psychische Störungen mit Medikamenten zu behandeln, passt jedoch ganz in unsere Zeit. Es entspricht dem biologistischen Ansatz, der alle übrigen Erklärungsmöglichkeiten verdrängt hat. Ich sehe die Ursachen psychischer Störungen in belastenden biographischen und familiären Gegebenheiten und in der individuellen Verarbeitung gesellschaftlicher Zustände.

BIO: Man trifft hingegen nicht selten auf die Ansicht, psychische Auffälligkeiten seien genetisch bedingt.

Marc Rufer: Leider. Bereits seit dem 18. Jahrhundert sprechen die Psychiater von einer Vererbung der so genannten Geisteskrankheiten. Und dieses Konzept hat mit dem Aufschwung von Genetik und Gentechnologie noch zunehmend Anhänger gefunden. In den Medien wird aus Expertenmund so oft und so selbstverständlich die Vererbungs-Ideologie verkündet, dass sie im Laufe der zeit gleichsam zur Wahrheit geworden ist. Dabei gibt es bis heute auch keinerlei wissenschaftlichen Beweis dafür.

Flucht in das Leben

Das Berliner Weglaufhaus – Zufluchtsstätte für Psychiatrie-Betroffene

Das Berliner Weglaufhaus – eine beispielhafte Alternative zur „geschlossenen“ Anstalt. Dazu Iris Hölling, seit 1996 Mitarbeiterin des Hauses: „Es ist schon ein Erfolg, wenn ein(e) Bewohner(in) nach jahrelanger Neuroleptika-Einnahme beim Absetzen im Weglaufhaus wieder wach(er) wird. Wenn die Mimik in ihr steifes Gesicht zurückkehrt. Wenn sie anf˛ngt, anders als in psychiatrischen Krankheitskategorien über ihr Leben und ihre Erfahrungen nachzudenken“

Wo es Gewalt gibt, gibt es auch Wege der Flucht und Orte der Zuflucht vor ihr – in Kirchen und Klöstern, in Frauenh˛usern. Gewalt ist auch das Wegsperren psychisch gestörter Menschen in psychiatrische Kliniken und ihre Behandlung gegen ihren Willen.

Aus dieser sich meist als Hilfe verstehenden Form des Zwanges zu fliehen existieren bis heute in Europa nur vereinzelt institutionalisierte Möglichkeiten, beispielsweise in Holland und Schweden und seit 1996 auch in der Bundesrepublik.

Im Norden Berlins gibt es ein solches Asyl – die „Villa Stöckle“. Das erste und bisher einzige Weglaufhaus für Psychiatrie-Betroffene in Deutschland. Die Immobilie stellt bis zum heutigen Tag ein anonymer Spender zur Verfügung. Sein Sohn hatte sich in der Psychiatrie das Leben genommen.

Nach den tieferen Ursachen wird zumeist nicht gefragt

BIO: Warum hängt man dann dieser Theorie in Gesellschaft und Medien an?

Marc Rufer: Sie macht das Problem scheinbar einfach. Wer für Depressionen, Ängste und andere psychische Leiden eine genetisch festgelegte Hirnphysiologie verantwortlich macht, für den sind Psychopharmaka zwangsläufig das Nächstliegende und der bracht sich über die gesellschaftliche Situation, die Verteilung der Macht, über Erziehung, Schule, Arbeit und Leistungsdruck als Ursache von psychischen Störungen keine Gedanken mehr zu machen.

Denn die biologistische Interpretation rückt die gesellschaftlichen wie psychologischen Ursachen zunehmend aus dem Blickfeld. Ja, blad wird kaum jemand mehr wissen, dass es einmal auch Erklärungen gab, die gerade von diesen Gegebenheiten ausgingen.

BIO: Für den Einzelnen, zumal im akuten Fall, ist jedoch der Streit der Experten um Erklärungen und Theorien sicher zweitrangig.

Marc Rufer: Das scheint nur so. Mir kann es als Betroffenen letztlich nicht einerlei sein, ob und als was die Therapeuten mein Leiden begreifen. Das genetische Konzept wäre für mich fatal: Was im Laufe meines Lebens aus biographischen und gesellschaftlichen Gründen entstanden ist, das kann ich prinzipiell auch aus eigener Kraft wieder rückgängig machen. Was ich jedoch in den Genen mitbringe, das ist biologisch festgeschrieben, gewissermaßen ins Fleisch eingebrannt: die Krankheit, die krankhafte Anlage und damit meine grundsätzliche Minderwertigkeit.

Der psychisch gestörte Mensch wird aus dieser Sicht zur defekten Maschine, und medizinische Reparaturmaßnahmen sind dann die Behandlungsmethoden. Hinzu kommen Empfehlungen, keine Kinder zu zeugen.

Ein solches Herangehen führt auch ganz logisch dazu, vorbeugend – oft über Jahrzehnte – mit Medikamenten zu behandeln. Die Patienten werden, wie es im Medizinerjargon heißt „eingestellt“.

Das Rosenhan-Experiment entlarvte das Unvermögen

Um die Frage zu erhellen, inwieweit Experten geistig gesunde Menschen aus einer Gruppe als psychisch krank definierter Patienten herausfinden können, ob folglich die Unterscheidung zwischen „Normalsein“ und „Irresein“ gerechtfertigt ist, führte der amerikanische Psychiater David Rosenhan 1968 ein äußerst aufschlussreiches Experiment durch.

Er ließ dazu psychisch völlig intakte Freiwillige – drei Psychologen, einen Psychologiestudenten, einen Psychiater, einen Kinderarzt, eine Hausfrau und einen Maler – sich in verschiedene psychiatrische Kliniken aufnehmen.

Bei ihrer Aufnahme gaben die Versuchspersonen an, Stimmen gehört zu haben, sich aber jetzt wieder ganz gesund zu fühlen. Während der gesamte Zeit ihres Klinikaufenthalts – von sieben bis zu 52 Tagen, im Durchschnitt fast drei Wochen – verhielten sie sich völlig „normal“ und kooperativ. Sie nahmen auch brav die verordneten Psychopharmaka, schluckten sie aber nicht.

Wie aus den Klinikakten hervorgeht, schöpfte keiner der behandelnden Psychiater Verdacht, dass die Testpersonen simuliert haben könnten. Lediglich einige „echt kranke“ Insassen vermuteten dies immer wieder. Die Scheinpatienten wurden allesamt mit der Diagnose „Schizophrenie“ entlassen, die meisten freilich mit dem dafür notwendigen Zusatz „in Remission“. Laut medizinischem Wörterbuch bedeutet die so viel bedeutet wie „im Zustand (vorübergehender) Rückbildung“.

Nachdem das ebenso makabre wie aufschlussreiche Experiment bekannt wurde, meldete sich eine renommierte Klinik mit der saloppen Überzeugung, ihren Experten könne ein derartiger Reinfall nicht passieren. So erhielt diese Klinik von Dr. Rosenhan die Information, im Verlaufe der nächsten drei Monate würde von ihm eine unbestimmte Anzahl Scheinpatienten eingewiesen. Vor diesem Hintergrund beurteilte man dort in der fraglichen Zeit insgesamt 193 Patienten.

Die Folge: 41 davon wurden durch mindestens ein Mitglied des Personals mit hoher Wahrscheinlichkeit für Scheinpatienten gehalten, 23 von mindestens einem Psychiater als verdächtig eingestuft, zu den Versuchspersonen zu gehören, 19 davon sogar von einem Psychiater und einem weiteren Mitglied des Personals.

In Wahrheit aber hatte Dr. Rosenhan keine einzige Testperson in die Klinik geschickt. Damit stand es zwei zu Null für jene Kritiker, die das Instrumentarium, mit dem hilfesuchende Menschen psychiatrisiert werden, für wenig verlässlich und die Experten kaum für verantwortungsbewusst halten.

Die Elektroschocktherapie verändert die Persönlichkeit Der Betroffenheit. Sie sind nicht mehr die, die sie vorher waren.

BIO: Wenn aber bisweilen mit Medikamenten geholfen werden kann – sollte man dann das nicht auch tun?

Marc Rufer: Psychopharmaka haben keine heilende Wirkung. Bestenfalls lassen sich schlechte Gefühle wegdämpfen oder eine aufgeregte Situation von außen gesehen beruhigen. Die Ursachen, welche die Störungen ausgelöst haben, bleiben bestehen und wirken auf diese Weise unverändert weiter. So entsteht eine doppelte Abhängigkeit: einerseits vom Medikament, andererseits vom behandelnden Arzt. Und wer auf eigene Faust die Pharmaka abzusetzen versucht – die Fachleute verweigern den Betroffenen hierfür meist jegliche Beratung -, dem drohen Entzugserscheinungen. Und die werden dann meist als Rückfall interpretiert.

BIO: Gibt es also Ihrer Meinung nach keinerlei sinnvollen Einsatz dieser Medikamente?

Marc Rufer: Doch. Aber es sollte mit ihnen immer sehr vorsichtig und überlegt umgegangen werden. Das gilt auch für Schlafmittel. Wer lange nicht schläft, kann außergewöhnliche Bewusstseinszustände erleben. Zustände, die Psychiater nicht von akuten Schizophrenien zu unterscheiden vermögen. Wer dieses Phänomen nicht kennt, ängstigt sich natürlich und läuft Gefahr, psychiatrisiert zu werden. Hier kann die kurzfristige Gabe von Schlafmitteln oder dämpfenden Psychopharmaka angezeigt sein.

Vergessen werden darf aber in keinem Falle, dass Psychopharmaka, insbesondere zu Beginn der Behandlung, gefährliche Nebenwirkungen haben können. Dazu gehören unter anderem Schlundkrämpfe, Blutbildveränderungen, Herzrhythmusstörungen, Embolien.

Ferner können im Laufe der Behandlung medikamentenbedingt genau jene Symptome auftreten, die die Psychiater beheben wollen – so zum Beispiel Verwirrung, Halluzinationen und Depressivität. Insbesondere bei Neuroleptika kommt es zu intellektuellen und emotionalen Einbußen, zu Kreativitätsverlust, Konzentrationsschwäche, Resignation und anderem mehr. Ein Leben auf dem vorherigen Niveau wird oft unmöglich.

BIO: In immer mehr psychiatrischen Kliniken erlebt der Elektroschock sein Comeback. Vor allem bei den so genannten therapieresistenten Depressionen wird diese Behandlung als sehr wirksam angepriesen.

Marc Rufer: Sarkastisch muss man sagen: Ja, die Wirkung des Elektroschocks ist in der Tat ungeheuerlich! Er ist eine Tortur. Daran ändert auch der neue Name nichts. Heute spricht man beschönigend von Elektroheilkrampfbehandlung. Die Schriftstellerin Mariella Mehr sah im Elektroschock „die Bankrotterklärung der Psychiatrie“. Ich persönlich kann das nur unterstreichen.

Es handelt sich um physische und psychische Grausamkeit, auch wenn die Behandlung heute in Narkose und unter medikamentös erzeugter Muskellähmung durchgeführt wird. Wer je einem Elektroschock beigewohnt hat, wird die damit verbundenen Gefühle nie vergessen.

BIO: Was geht dabei vor sich? Worin liegt hier eigentlich der therapeutische Effekt?

Marc Rufer: Der elektrische Strom löst – ob mit oder ohne Narkose – einen großen epileptischen Anfall aus, das heißt schwere Muskelkrämpfe, verbunden mit tiefer Bewusstlosigkeit. Es kommt zu wochenlangen, oft auch bleibenden Veränderungen der hirnelektrischen Aktivität. Die „heilende“ Wirkung beruht auf einer Funktionsstörung des Gehirns, die zur Folge hat, dass die Betroffenen ihre Probleme, mit denen sie nicht fertig wurden, schlicht und einfach vergessen. Das mag für die Psychiater als Besserung gelten.

Für die Patienten bedeutet es dagegen Abhängigkeit von Ihren Betreuern und Angehörigen. Die haben jetzt nämlich völlig freie Hand, die Vergangenheit des auf diese Weise Therapierten willkürlich zu definieren und zu interpretieren, ohne dass dieser in der Lage wäre, wenn nötig aus eigener Erinnerung korrigierend einzugreifen.

BIO: Solange psychisch gestörte Menschen in ambulanter Behandlung, sozusagen „auf freiem Fuß“ sind, können sie sich vielleicht noch aggressiven Therapien verweigern. Was aber, wenn sie in eine psychiatrische Klinik aufgenommen oder gar eingewiesen worden sind?

Marc Rufer: Die psychiatrische Hospitalisierung ist für die Betroffenen sehr oft ein Verhängnis. Vor allem, wenn sie keine Angehörigen mehr haben oder die sich nicht mehr um sie kümmern.

Die Stichworte Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung weisen darauf hin, dass Psychiater regelmäßig gegen den Willen der Betroffenen Gewalt anwenden. Die Psychiatrie hat – offensichtlich im staatlichen Auftrag – eine Ordnungsfunktion, vergleichbar mit jener der Polizei. Doch ist diese Funktion hier verschleiert, denn diese Eingriffe werden nach außen hin als medizinische Eingriffe, als hilfreiche Behandlung dargestellt.

Die Psychiatrie hat also große Macht über Menschen. Und wo Macht ist, gibt es bekanntlich immer auch Machtmissbrauch. Das ist umso gefährlicher, da hier entsprechende Kontrollmechanismen kaum greifen. Denn „psychisch Kranke“ gelten zumindest potenziell immer als unzurechnungsfähig, und deshalb wird ihnen prinzipiell weniger geglaubt als ihren Ärzten und Pflegern, die ja „gesund“ sind.

BIO: Nach Möglichkeit sollte man also eine Hospitalisierung vermeiden. Wenn aber die Gefahr besteht, dass zum Beispiel schwer depressive Patienten in ihrer Not Selbstmord begehen, ist dann ein vorübergehender Klinikaufenthalt nicht doch das kleinere Übel?

Marc Rufer: Nein. Ein Klinikaufenthalt kann den Selbstmord nicht verhindert, höchstens hinausschieben. Kaum ein Betroffener, der nicht etliche Mitpatienten kennt, die sich umgebracht haben. Seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts haben die Selbstmorde von Psychiatriepatienten deutlich zugenommen. Und dies, obwohl praktisch immer gegen die Erregung Neuroleptika und gegen die Depressivität Antidepressiva verabreicht werden. Ich führe die Zunahme der Suizide gerade auf diese Behandlung zurück.

Für beide Medikamentengruppen wird nämlich in der Fachliteratur ausdrücklich eine Vergrößerung der Suizidalität als mögliche Nebenwirkung deklariert. Außerdem verschlechtert die Tatsache der Hospitalisation die Lebens- und Arbeitssituation der Betroffenen wesentlich, was die Selbstmordgefahr zusätzlich erhöhen kann.

Sogar Symptome, die als manisch-depressive Erkrankung und Schizophrenie diagnostiziert werden, verschwinden regelmäßig im Laufe der Zeit.

Wie man sich vor Willkür schützen kann

BIO: Wie kann man sich vor psychiatrischer Willkür schützen? Was sollte man tun, um im Fall der Klinikeinweisung einer Zwangsbehandlung zu entgehen?

Marc Rufer: Zunächst sollte man in einer notariell beglaubigten Vorausverfügung, dem so genannten psychiatrischen Testament, klar festhalten, welche Behandlungsmethoden auf keinen Fall angewendet werden dürfen. Das hinter Klinikmauern durchzusetzen kann immer noch schwierig sein. Deshalb ist es wichtig, bereits „in guten Zeiten“ unter seinen „gesunden“ Verwandten und Freunden verständnisvolle Verbündete zu finden, die im Ernstfall unterstützend eingreifen können.

 

BIO: Dann bleibt aber immer noch die Frage nach praktikablen Alternativen, besonders für die so genannten schweren Fälle.

Marc Rufer: Wir können immer einen Weg beschreiten, der die Würde der Patienten nicht antastet. Was psychisch Leidende in erster Linie brauchen, ist eine verständnisvolle, nicht krank machende und stigmatisierende Umgebung. Und jedes Hilfsangebot muss ihre Selbständigkeit zum Ziel haben: Letzteres jedoch ist genau das, was die etablierte Psychiatrie durch ihre Interventionen untergräbt.

Freilich ist es einfacher, Pillen zu verschreiben, als zum Beispiel die Hintergründe für das Auftreten der Krise psychotherapeutisch aufzuarbeiten, ob das nun Probleme in der Partnerschaft sind oder mit dem Job oder in der Schule. Wenn eine Psychotherapie Sinn haben soll, muss jedoch gesichert sein, dass die intellektuellen und emotionalen Potenzen des Patienten nicht durch Medikamente, speziell Neuroleptika, weggedämpft werden.

Zum anderen sollten die gesicherten Kenntnisse über den Spontanverlauf schwerer psychischer Störungen nicht vergessen werden. Sogar Symptome, die als manisch-depressive Erkrankung und Schizophrenie diagnostiziert werden, verschwinden regelmäßig im Laufe der Zeit. Das wissen die Psychiater ganz genau. Dennoch bestimmt dieses Wissen ihr Handeln in keiner Weise. Wo immer das untersucht wurde, zeigte sich: Wer in psychopharmakafreien Programmen behandelt wird, hat langfristig eine bessere Prognose.

BIO: Die beste Psychotherapie ist aber außerstande, die objektiven Ursachen für die „von der Norm abweichenden“ subjektiven Reaktionen zu beseitigen.

Marc Rufer: Selbstverständlich nicht. Auf den meisten Mitgliedern unserer Gesellschaft lastet ein enormer Leistungsdruck. Dieser, die zunehmende soziale Unsicherheit und das Erfahren und Erleiden von Ungerechtigkeit und Manipulation beeinträchtigten in starkem Maße die Beziehungsfähigkeit und das innere Gleichgewicht der Menschen.

Daraus ergibt sich die Einsicht, dass Hilfe für psychisch Leidende nichts mit Medizin, nichts mit Biologie zu tun haben sollte. Hilfe, sofern sie gewünscht wird, ist eine soziale Aufgabe – falls Experten dazu nötig sind – für Psychologen. Und: Solche Hilfe darf nicht mit sozialer Kontrolle vermengt oder gar durch sie ersetzt werden. Wenn das erkannt würde, hätte die Irrenmedizin endgültig ausgedient.

 

BIO: Seien wir optimistisch! Herr Dr. Rufer, wir danken Ihnen für das interessante Gespräch.

Man kann die Verantwortung nicht in die Hände der Chemie legen

Der Bestseller-Autor Andrew Solomon, politischer Berater der Clinton-Regierung und einst selbst an einer schweren Depression erkrankt, sagte in einem Interview mit Ruedi Leuthold in „Die Zeit“:

„Die chemischen Vorgänge im Gehirn kann man medizinisch angehen. Die charakterlichen Eigenschaften einer Persönlichkeit kann man nicht einfach verändern. Ich empfehle daher, eine Depression in möglichst frühem Stadium zu behandeln. Und gleichzeitig eine psychotherapeutische Behandlung zu beginnen, um das eigene Leidensmuster besser zu verstehen. Man kann sein Leben nicht einfach in die Hände der Chemie legen, so wie ein Fahrgast, der sich im Taxi durch die Stadt fahre lässt. Es ist wichtig, selbst Verantwortung zu übernehmen.“

Buchtipp: Andrew Solomon: „Saturns Schatten“ – ein Standardwerk zum Thema, S. Fischer Verlag, 576 Seiten, € 24,90.

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